Gefangen in der Ambivalenz
Die häufigste Form sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist die intrafamiliäre sexuelle Gewalt (Radford et al., 2011), wobei die sexuellen Gewalthandlungen in das normale Familienleben eingebettet sind und der missbrauchende Elternteil im Leben des Kindes – mehr – als die Rolle des sexuellen Gewalttäters einnimmt.
Der Beziehung zwischen dem Kind oder Jugendlichen und dem/der Täter(in) kommt hierbei eine sehr entscheidende Rolle zu, denn von deren Qualität hängt der emotionale Zustand des Kindes, dessen Bereitschaft die sexuelle Gewaltanwendung offenzulegen als auch dessen mögliche Genesung nach der Gewalterfahrung ab (Malloy et al., 2011).
Kommt es innerhalb einer Familie zur Anwendung sexueller Gewalt, wird das Kind dazu aufgefordert diese zu verschweigen oder zu leugnen. Für das Kind ergibt sich aus der Geheimhaltung innerhalb der eigenen Familie eine Welt und Realität, die es nur mit seinem/seiner Täter(in) teilt. Auf diese Weise wird ein Abhängigkeitsverhältnis psychischer Art vom Kind zum/zur Täter(in) hergestellt, indem im Kind das Gefühl entsteht, dass der/die Täter(in) die einzige Person sei, die es wirklich kennt.
Beschreibt ein Kind die Beziehung zu seinen Eltern-Tätern(innen), zeigt sich eine starke Ambivalenz hinsichtlich seiner Wahrnehmung, Gefühle und seinem Verständnis über die Beziehung zum/zur Täter(in). Aus Angst aufzufliegen, versuchen die Täter(innen) gezielt die kindliche Wahrnehmung der sexuellen Handlungen zu beeinflussen. Sie bezeichnen die sexuelle Gewalt als Ausdruck von Liebe, Freude und Elternschaft sowie Strafe oder Bestechung (Tener et al., 2016) und versuchen somit möglichen Auswirkungen der Straftat entgegenzuwirken. Diese gezielte Manipulation lässt ein positives Täter(innen)-Bild im Kind entstehen und sexuelle Gewalt als normale Routine erscheinen, welche, wie dem Kind oft glauben gemacht wird, Teil jeder Familie sei. Zugleich wird das Kind in der eigenen Familie als sexuelles Objekt benutzt. Diese Widersprüchlichkeit löst eine große Gefühlsverwirrung im Kind aus und bereitet ihm Schwierigkeiten dabei, die erfahrenen sexuellen Gewalthandlungen einzuordnen und Geschehenes zu begreifen.
Dieser Umstand betrifft insbesondere Kinder, die sexueller Gewalt innerhalb der Familie ausgesetzt sind. Da die Gewalthandlungen in den Kindesalltag und in das normale öffentliche Leben eingebunden sind, sind sie für das Kind meist schwer von der „Normalität“ zu trennen und als Straftat erkennbar. Auch können Kinder oft nicht beschreiben, woher sie wussten, was sie während einer sexuellen Gewalttat zu tun hatten, doch wussten sie genau, wann es passieren würde, da bereits ein Blick des/der Täter(in) dafür ausreichend war.
Ist die Familie der Tatkontext sexueller Gewalt, befindet sich das Kind in einer sehr prekären Lage, denn von Beginn des Lebens an ist es auf die Versorgung durch die Eltern angewiesen. Um sein emotionales und körperliches Überleben sicher zu stellen, vertraut es den Eltern. Sexuelle Gewalt durch die Eltern löst im Kind einen Konflikt zwischen dieser Vertrauenserwartung und dem Gefühl des Verrats aus, wobei letzteres umso stärker ist, je größer die emotionale Nähe zwischen dem Kind oder Jugendlichen und dem/der Täter(in) ist.
In diesem Zusammenhang kommt es oft zu einem Phänomen namens „Betrayal Blindness“, welches für das emotionale Überleben des Kindes notwendig ist. Hierbei hat die betrogene Person, in diesem Fall das Kind keinerlei Erinnerungen an die sexuelle Gewalterfahrung (Freyd et al., 1996). Das Kind kämpft dagegen an, die Eltern-Täter(innen) als gefährlich anzusehen und empfindet dadurch im Moment der Eskalation eine enorme Überraschung.
Kinder, die sexuelle Gewalt durch ihre Eltern erleben, sind an einem unsicheren Ort gefangen, der zugleich der einzige Ort ist, den sie haben. Die emotionale Beziehung zum/zur Täter(in) erscheint beinahe bedingungslos. Diese Bindung ist so stark, dass sich Kinder selbst dann an ihre Eltern wenden, um Hilfe sowie Antworten auf ihre Fragen bezüglich der Gewalterfahrungen zu erhalten, wenn die sexuellen Gewalthandlungen bereits stattfinden. Die Beziehung zum/zur Eltern-Täter(in) hält oft noch bis in das Erwachsenenalter an und spielt meist eine wichtige Rolle für die Überlebenden.